Die Thüringer AfD-Fraktion – und die Zählung aller Homo-, Bi- und Transsexuellen
Die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag hat in zweiter Instanz ein Eilrechtsschutzverfahren gegen die SPD-Landtagsfraktion im Thüringer Landtag und deren innenpolitische Sprecherin verloren. Das Oberlandesgericht Köln wies – anders als erstinstanzlich noch das Landgericht Köln – den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ab.
Gegenstand des Streits war ein Beitrag der innenpolitischen Sprecherin auf der Homepage der SPD-Fraktion vom 03.09.2018. Unter der Überschrift „Verfassungsfeindlichkeit der AfD ist schon länger offenkundig“ gab diese eine Erklärung zur Debatte um die Beobachtung der AfD durch die Verfassungsschutzbehörden ab. In dem Beitrag führte sie mehrere Argumente und Gründe auf. Dies beinhaltete auch den Satz „Schon 2015 habe eine Abgeordnete der hiesigen AfD-Fraktion eine Kleine Anfrage eingereicht, in der sie eine Zählung aller Homo, Bi- und Transsexuellen in Thüringen verlangte“. Den vollständigen Text der Erklärung finden Sie hier. Tatsächlich hatte die von einer Abgeordneten eingereichte Anfrage eine „Zählung“ im eigentliche Sinne nicht gefordert, sondern nur nach vorhandenem Material zur Zahl der Homosexuellen, Bi- und Transsexuellen, Transgender und intergeschlechtlichen Menschen in Thüringen bzw. den Erkenntnissen der Landesregierung hierzu gefragt. Den Text der Anfrage finden Sie hier.
Auf Antrag der AfD-Fraktion hatte das Landgericht Köln der SPD-Fraktion und ihrer Sprecherin im Wege der einstweiligen Verfügung die weitere Verbreitung ihrer Aussage untersagt1. Auf die Berufung der SPD-Fraktion hat das Oberlandesgericht Köln die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abgewiesen:
Die AfD‑Fraktion sei in ihren Rechten betroffen, obwohl nicht sie selbst, sondern nur eines ihrer Mitglieder als Initiatorin der Anfrage bezeichnet werde. Bei der gebotenen Gesamtabwägung müsse die AfD-Fraktion die Äußerung aber hinnehmen. Es handele sich bei dem Text aus dem Jahr 2018 nicht um eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Kleinen Anfrage aus dem Jahr 2015, sondern Gegenstand sei die Auseinandersetzung mit den tagesaktuellen Prüfvorgängen in den Verfassungsschutzbehörden gewesen. Diese habe die Beklagte begrüßt und dabei – polemisch und pauschalierend zu Lasten des politischen Gegners – zum Ausdruck gebracht, dass und warum man die Partei ohnehin schon länger für auffällig halte. Eines der hierzu gegebenen Beispiele habe die streitgegenständliche Äußerung aus dem Jahr 2015 betroffen. Somit sei ein schon einige Zeit zurückliegender Vorfall nur „schlaglichtartig“ reaktualisiert worden. Diese Passage habe aus Sicht des durchschnittlichen Lesers ersichtlich nur eine Vereinfachung und Vergröberung des damaligen Geschehens dargestellt, bei dem der im Zusammenhang mit der Kleinen Anfrage im Jahr 2015 erzeugte „politische Aufschrei“ und das negative Presseecho in Erinnerung gerufen worden sei. Es sei also ersichtlich nicht um eine isolierte dezidierte Würdigung der genauen Zielrichtung der Kleinen Anfrage im Detail gegangen, sondern um eine plakative Beschreibung des damaligen Vorgehens aus Sicht des politischen Gegners. Der streitgegenständliche Passus habe damit als stichwortartige Beschreibung dieses „Skandals“ nur eines von mehreren „Zahnrädern“ in der eigenen gedanklichen Argumentation dargestellt. Unstreitig sei aber schon im Jahr 2015 die Kleine Anfrage sowohl vom politischen Gegner und der Presse als auch von der Landesregierung als (verkappter) Wunsch nach einer „Zählung“ der Homo, Bi- und Transsexuellen gedeutet und verstanden, möglicherweise auch bewusst missverstanden worden.
Die Berufung ist zulässig.
Die beiden an dem Verfahren beteiligten Landtagsfraktionen sind als Fraktionen parteifähig gemäß § 45 Abs. 2 ThürAbgG. Ein Rechtsstreit zwischen Landtagsfraktionen betreffend Äußerungen in der außerparlamentarischen Öffentlichkeitsarbeit fällt zudem auch dem Zivilrechtsweg zu2, was mangels Rüge vom Oberlandesgericht wegen § 17a Abs. 5 GVG aber ohnehin nicht mehr zu prüfen wäre. Die Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO sind hier ebenfalls noch gewahrt. Gemäß § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO hat die Berufungsbegründung die Bezeichnung der Umstände zu enthalten, aus denen sich nach Ansicht des Rechtsmittelführers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Da die Berufungsbegründung erkennen lassen soll, aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen der Berufungskläger das angefochtene Urteil für unrichtig hält, hat dieser diejenigen Punkte rechtlicher Art darzulegen, die er als unzutreffend ansieht und dazu die Gründe anzugeben, aus denen er die Fehlerhaftigkeit jener Punkte und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung herleitet. Besondere formale Anforderungen werden insoweit nicht gestellt. Insbesondere erfordert die Berufungsbegründung weder die ausdrückliche Benennung einer bestimmten Norm noch die Schlüssigkeit oder jedenfalls Vertretbarkeit der erhobenen Rügen3. Hier haben die SPD-Landtagsfraktion und ihre ebenfalls mitbeklagte innenpolitische Sprecherin ausreichend deutlich gemacht, aus welchen rechtlichen Gründen sie die erstinstanzliche Entscheidung für unzutreffend halten. Sie widersprechen insbesondere der rechtlichen Bewertung der ersten Instanz zur Frage der Betroffenheit der AfD-Landtagsfraktion und vertreten eine andere Ansicht bezüglich der Frage, wie die Abwägung zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht der AfD-Landtagsfraktion und der Meinungsfreiheit der Verfügungsbeklagten auszufallen hat. Dies genügt den prozessualen Anforderungen.
Die Berufung ist auch begründet.
Das Landgericht hat allerdings zu Recht und mit zutreffender Begründung eine unmittelbare Betroffenheit der AfD-Landtagsfraktion bejaht.
Richtigerweise geht das Landgericht davon aus, dass die AfD-Landtagsfraktion trotz ihrer Stellung als Fraktion des Thüringischen Landtages in Anwendung von Art.19 Abs. 3 GG im Grundsatz den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beanspruchen kann. Sie begehrt Rechtsschutz gegen eine Äußerung, die außerhalb des Parlaments gefallen ist. Sie handelt somit nicht nur in Wahrnehmung ihrer dem Verfassungsrecht entspringenden Rechte, sondern vielmehr als Teilnehmerin am allgemeinen zivilrechtlichen Verkehr. In diesem Bereich weist eine Fraktion als freie Vereinigung von Abgeordneten aber strukturelle Ähnlichkeiten zu einem nicht-rechtsfähigen bürgerlich-rechtlichen Verein auf4. Derartige privatrechtliche Vereinigungen werden zu den juristischen Personen im Sinne des Art.19 Abs. 3 GG gezählt5. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist insofern auch wesensmäßig iSd Art.19 Abs. 3 GG einschlägig: Zwar bereitet die Erstreckung von Grundrechten mit persönlichkeitsrechtlichen Einschlägen auf inländische private Organisationen aufgrund des Bezugs zur Menschenwürde (Art 1 Abs. 1 GG), auf die sich eine private Organisation nicht stützen kann, im Einzelnen bisweilen Schwierigkeiten6. Es ist jedoch zu Recht anerkannt, dass auch nicht-rechtsfähigen Vereinen und sonstigen Personengemeinschaften Schutz über das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährt werden kann, wenn die Gemeinschaft eine anerkannte gesellschaftliche oder sonstige wirtschaftliche Aufgabe bzw. soziale Funktion erfüllt und einen einheitlichen Willen bilden kann7. Auch die AfD-Landtagsfraktion wird davon erfasst: Sie erfüllt gesellschaftliche Aufgaben, die in § 47 ThürAbgG niedergelegt sind. Sie kann einen einheitlichen Willen bilden, da ihre Binnenordnung durch Geschäftsordnung zu regeln ist (vgl. § 46 ThürAbgG; § 8 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags).
Die AfD-Landtagsfraktion ist zudem auch in ihrem Geltungsanspruch und damit hier auch ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht betroffen, obwohl nicht sie selbst, sondern nur eines ihrer Mitglieder als Initiatorin der Kleinen Anfrage bezeichnet wird.
Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, kann zwar gegen rechtsverletzende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht im Grundsatz nur der unmittelbar Verletzte vorgehen, nicht auch derjenige, der lediglich mittelbar belastet ist8. Geht es – wie hier – um einen Anspruch einer juristischen Person oder Personenvereinigung auf Unterlassung einer das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzenden Äußerung, ist stets zu beachten, dass der Schutz beschränkt ist auf deren Erscheinungs- und Wirkungsfeld. Eine Kritik muss daher – wenn sie auch in der Person eines kritisierten Gesellschafters, Betriebsangehörigen oder Mitglieds festgemacht wird – die juristische Person oder Personenvereinigung selbst (unmittelbar) treffen. Ob dies der Fall ist, lässt sich nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls bei wertender Gesamtwürdigung anhand der Verkehrsanschauung feststellen9. Wenn – wie hier – eine Äußerung also nicht direkt auf die Fraktion, sondern zunächst vordergründig auf ein ihr angehöriges Mitglied abzielt, ist für die Betroffenheit entscheidend, ob das Mitglied einer juristischen Person i.S.d. Art.19 Abs. 3 GG gerade in dieser Eigenschaft oder wegen Tätigkeiten angegriffen wird, mit denen die Verkehrsauffassung gerade auch die juristische Person identifiziert10. Zudem kann darauf abzustellen sein, ob die angegriffene Äußerung eine Führungskraft betrifft, die die Verhältnisse der juristischen Person maßgeblich gestaltet und nach außen hin prägt11.
Aufbauend auf diese Prämissen hat das Landgericht hier jedenfalls im Ergebnis zu Recht eine Betroffenheit der AfD-Landtagsfraktion bejaht.
Dabei rügt die Berufungsbegründung allerdings zu Recht, dass die Argumentation mit der geringen Gruppengröße wohl so nicht trägt und schnell zu Verwerfungen führen kann. Zwar ist ein Abstellen auf die Gruppengröße unter Umständen von Belang, wenn Fälle einer sog. Kollektivbeleidigung, also der Beleidigung von Einzelpersonen unter einer gemeinsamen Bezeichnung im Raum stehen und auf die Überschaubarkeit der Gruppengröße abzustellen ist12, doch geht es darum hier nicht, sondern um die Betroffenheit der Organisation selbst. Auch kann ersichtlich nicht mit einer besonders herausgehobenen und die AfD-Landtagsfraktion „prägenden“ Position der Abgeordneten argumentiert werden; eine solche Rolle kommt dieser nämlich gerade nicht zu. Zudem ist in der Tat zu bedenken, dass es sich bei einer Kleinen Anfrage, deren Inhalt Auslöser der streitgegenständlichen Äußerung ist, tatsächlich um ein Instrument handelt, das nur Ausfluss der individuellen Rechte des einzelnen Abgeordneten ist (§ 90 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags). Eine in einer Kleinen Anfrage zum Ausdruck kommende individuelle Position eines Abgeordneten muss daher auch nicht zwingend eine solche sein, die auch die Fraktion vertritt.
Indes geht eine solche strenge und formal-juristische Trennung zwischen dem einzelnem Abgeordnetem und der Fraktion hier fehl; richtigerweise steht sie der Annahme einer unmittelbaren äußerungsrechtlichen Betroffenheit (auch) der AfD-Landtagsfraktion im konkreten Fall nicht entgegen: Zum einen erscheinen die Fraktionen im gesellschaftlichen Bewusstsein ohnehin als letztlich entscheidende Akteure in einem Parlament, zumal – wie die häufige Diskussion um sog. „Abweichler“ zeigt – sich für die Öffentlichkeit parlamentarisches Handeln eines Fraktionsmitglieds gegen seine Fraktion trotz der Freiheit der Mandate doch eher als Ausnahmefall darstellt. Ob allein dies für ein „Durchschlagen“ der streitgegenständlichen Äußerung auch auf die AfD-Landtagsfraktion genügen würde, kann dahinstehen. Denn jedenfalls ist bei gebotener Würdigung der Äußerung im Gesamtkontext zudem zu beachten, dass die im Beitrag plakativ beschriebenenen „Einzelaktionen“ von namentlich nicht genannten Mitgliedern hier gerade als angeblicher Beleg für den gezogenen Rückschluss auf die Verfassungsfeindlichkeit der AfD-Landtagsfraktion und der Partei herangezogen worden sind. Die streitgegenständliche Aussage ist nämlich – worauf unten nochmals zurückzukommen sein wird – Teil eines längeren Textes, in dem die innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion ihre Einschätzung zu den tagesaktuellen Diskussionen um eine mögliche Beobachtung der AfD durch die Verfassungsschutzbehörden erläutert. Ihre dabei aufgeworfene These, dass gar keine neuen Erkenntnisse des Verfassungsschutzes erforderlich seien, um der AfD verfassungsfeindliche Bestrebungen nachzuweisen, untermauert sie dabei durch die Verweise auf bestimmte als besonders skandalös empfundene Verhaltensweisen von (hier: namenlosen) AfD-Mitgliedern. Während im ersten inhaltlichen Absatz auf beanstandete Ereignisse außerhalb von Thüringen Bezug genommen wird, konzentriert sich der zweite Absatz auf Anlässe, die ersichtlich direkt mit der AfD-Landtagsfraktion zusammenhängen. Als erstes Beispiel wird die streitgegenständliche Äußerung getätigt. Danach wird eine Äußerung des – ohnehin immer im Fokus der Öffentlichkeit stehenden – Fraktionsvorsitzenden im thüringischen Landtag angeführt, gefolgt von einer weiteren Äußerung des Fraktionsvorsitzenden außerhalb des Landtages. Abschließend wird auf die während einer Sitzung des thüringischen Landtages erfolgte Aussage eines weiteren, namentlich nicht benannten Fraktionsmitgliedes hingewiesen. Gerade dadurch, dass die innenpolitische Sprecherin im zweiten Absatz ihrer Stellungnahme Beispiele, die allesamt Folge der Ausübung der parlamentarischen Arbeit der AfD-Landtagsfraktion sind, sowie ein weiteres Beispiel nennt, das den schon kraft Amtes exponierten Fraktionsvorsitzenden betrifft, rückt sie gerade (auch) die AfD-Landtagsfraktion selbst in den Fokus. Es handelt sich unter den aufgezeigten Umständen gerade nicht nur um eine Äußerung, welche allein das Verhalten eines einzelnen Vereinsmitglieds oder eines „einfachen“ Mitarbeiters zum Gegenstand hat und deshalb die juristische Person i.S.d. Art 19 Abs. 3 GG nicht ohne Weiteres individuell betreffen kann13. Denn die Verhaltensweisen werden ja gerade als symptomatisch für die AfD-Landtagsfraktion beschrieben. Ob daneben dann auch die Partei als solche betroffen wäre, kann dahinstehen.
Die AfD-Landtagsfraktion unterliegt – wie eine politische Partei14 – als Fraktion trotz ihrer öffentlich-rechtlichen Einbindung nicht den in der Rechtsprechung entwickelten Einschränkungen beim Ehrschutz für öffentlich-rechtliche Körperschaften und Behörden, so dass nicht etwa deswegen zusätzliche Anforderungen15 zur Annahme einer Rechtsverletzung zu verlangen wären16.
Indes liegt – insofern entgegen dem Landgericht – in der Sache keine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der AfD-Landtagsfraktion vor.
Das Landgericht hat die allgemeinen Grundsätze zur gebotenen Abwägung im Rahmen des Rahmenrechts, zur Abgrenzung von Tatsachenäußerung und Meinungsäußerung und zur Bedeutung dieser Frage bei der Abwägung sowie zur Behandlungen von vergröbernden Äußerungen im politischem Umfeld zutreffend dargestellt, worauf zur Meidung von unnötigen Wiederholungen hier zunächst Bezug genommen werden kann. Dabei ist im politischen Meinungskampf eine Äußerung insbesondere nur dann als unzulässige Falschaussage zu würdigen, wenn ein Sachverhalt nicht nur vereinfacht wird, sondern bei voller Berücksichtigung rednerischer Einkleidungen und Vergröberungen gerade im Kern der Sachaussage falsch dargestellt wird; dann kann der Kritiker sich nicht mehr darauf zurückziehen, er habe seine Äußerung nur polemisch überzogen17. Das Landgericht hat auch erkannt, dass die zutreffende Sinndeutung einer Äußerung unabdingbare Voraussetzung für die richtige rechtliche Würdigung ihres Aussagegehalts ist. Maßgeblich für die Deutung einer Äußerung ist die Ermittlung ihres objektiven Sinns aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums. Ausgehend vom Wortlaut, der allerdings den Sinn nicht abschließend festlegen kann, ist bei der Deutung der sprachliche Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, zu berücksichtigen. Bei der Erfassung des Aussagegehalts muss die beanstandete Äußerung ausgehend von dem Verständnis eines unbefangenen Durchschnittslesers und dem allgemeinen Sprachgebrauch stets in dem Gesamtzusammenhang beurteilt werden, in dem sie gefallen ist. Sie darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden18.
Ob es unter Berücksichtigung dieser Prämissen überzeugend gewesen wäre, bei einer dezidierten Auseinandersetzung mit der Kleinen Anfrage – wie es das Landgericht getan hat – die Verwendung des Begriffs des „Zählens“ als unwahre Tatsachenbehauptung zu werten, kann und soll letztlich dahinstehen. Zwar geht es aus Sicht des Durchschnittsrezipienten insofern nicht um eine Art Zitat19 – was im Grundsatz besonders strengen Maßstäben zu unterwerfen gewesen wäre , sofern ein Betroffener so mit den Zitaten als „Waffe gegen sich selbst“ ins Feld geführt wird20. Ob man den Begriff des „Zählens“ im Kern als Tatsachenbehauptung verstehen muss bzw. jedenfalls – trotz des wertenden Charakters des Begriffs – eine Mehrdeutigkeit annehmen könnte, bei der für die weitere Prüfung nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung21 bei dem in die Zukunft gerichteten Unterlassungsanspruch die dem Äußernden nachteilige Deutungsvariante zugrunde zu legen wäre, kann und soll hier ebenso offen bleiben wie die weitere Frage, ob nicht – gerade im politischen Bereich – das plakative Zusammenfassen der Kleinen Anfrage mit dem Begriff „Zählen“ nicht doch eher nur eine eigene Bewertung des vermeintlich erkannten „wahren“ Inhalts und Hintergrunds der Anfrage ist und damit letztlich doch eher eine Meinungsäußerung auf Basis der (unstreitigen) kleinen Anfrage. Der Begriff „Zählen“ wäre dann eher nur eine Art wertende Erfassung des (vermeintlich) „wahren“ Sinngehalts der Anfrage als Äußerung des Meines und Dafürhaltens.
Darauf kommt es hier aber nicht an. Eine solche „isolierte“ Betrachtung würde dem Gesamtkontext der streitgegenständlichen Äußerung nicht gerecht. Gegenstand des Beitrages im September 2018 war nämlich, wie oben bereits ausgeführt, die Auseinandersetzung mit den tagesaktuellen Prüfvorgängen in den Verfassungsschutzbehörden zur Frage der behördlichen Überprüfung der AfD. Dies wurde begrüßt und dabei wurde – polemisch und pauschalierend zu Lasten des politischen Gegners – zum Ausdruck gebracht, dass und warum man die Partei ohnehin schon länger für auffällig halte und aus diesem Grunde keine Notwendigkeit für die Erlangung neuer Erkenntnisse sehe (frei nach dem Motto: „Haben wir immer schon so gesehen und gesagt!“). Zur Unterstützung dieser These wurde dann als erster Beleg zunächst eine Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion angeführt, die Menschen mit Migrationshintergrund eine erhöhte Neigung zu inzestuösen Beziehungen unterstellte. Danach wurden – wie oben bereits ausgeführt – vier weitere (vermeintliche) Skandale aus Thüringen angeführt und daraus dann der Schluss gezogen, dass es sich bei der AfD ohnehin schon immer u.a. um eine „neofaschistische Partei“ und „Verfassungsfeindin“ gehandelt habe. Eines der dazu gegebenen Beispiele betrifft die hier streitgegenständliche Äußerung zu der Kleinen Anfrage aus dem Jahre 2015, somit ein schon einige Zeit zurückliegender Vorfall nur „schlaglichtartig“ reaktualisiert wird. Diese Passage stellt aus Sicht des durchschnittlichen Lesers schon allein deswegen ersichtlich nur eine Vereinfachung und Vergröberung des damaligen Geschehens nach Ablauf und Inhalt dar. Bei der Würdigung darf darüber hinaus nicht unberücksichtigt bleiben, dass dem Rezipienten bei der Reaktualisierung des Geschehens auch sogleich der im Zusammenhang mit der Kleinen Anfrage in Jahr 2015 erzeugte „politische Aufschrei“ und das negative Presseecho in Erinnerung gerufen wurde. Insofern ging es ersichtlich nicht um eine isolierte dezidierte Würdigung der genauen Zielrichtung der Kleinen Anfrage im Detail, sondern eher nur um eine plakative Beschreibung des damaligen Vorgehens aus Sicht des politischen Gegners und auch der Landesregierung, die die Kleine Anfrage damals auch im Sinne der Verfügungsbeklagten verstanden hat oder verstehen wollte, wie die offizielle Antwort auf die Anfrage belegt. Der streitgegenständliche Passus stellt damit als stichwortartige Beschreibung dieses „Skandals“ nur eines von mehreren „Zahnrädern“ in der gedanklichen Argumentation der Gesamtäußerung das und soll so die plakativen Aussagen rechtfertigen. War aber schon im Jahr 2015 die Kleine Anfrage unstreitig sowohl von politischen Gegnern und Presse, als auch von der antwortenden Landesregierung in deren offizieller Antwort, nur als (verkappter) Wunsch nach einer „Zählung“ der Homo, Bi- und Transsexuellen gedeutet und verstanden, möglicherweise auch bewusst missverstanden worden, hatte dies damals für erheblichen politischen Wirbel gesorgt und wird dieser Vorgang dann – wie hier – im Jahr 2018 mehr oder weniger schlagwortartig zur Stützung einer politischen These nochmals als Bestandteil einer Kette von Vorfällen ohne Einstieg in die Details in Erinnerung gerufen, liegt jedoch das Element der Vergröberung und Überspritzung noch deutlicher auf der Hand als bei einer direkten Befassung mit dem Thema. Dies hat zwar nicht zur Folge, dass ein Gesamtvorgang aus der Vergangenheit auf diesem Weg in der Zukunft ggf. immer wieder mit gänzlich falschen Attributen versehen und mit einer Verfälschung im Tatsachenkern immer wieder ungehindert wiederholt werden dürfte. Doch ist bei der rechtlich für Äußerungen im politischen Bereich gebotenen Würdigung, ob bei voller Berücksichtigung rednerischer Einkleidungen und Vergröberungen das Geschehen „im Kern der Sachaussage“ falsch dargestellt wird22, in einem solchen Fall nach Ansicht des Oberlandesgerichts ein etwas großzügigerer Maßstab anzulegen als bei einer direkten Auseinandersetzung nur mit der Kleinen Anfrage selbst. Jedenfalls dann tritt auch der Tatsachenkern eher zurück. Es ist umso mehr ein Aspekt der Bewertung, des Meinens und des Dafürhaltens, ob man die (unstreitige) Frage nach Zahlenmaterial (ausgerechnet) über Homo, Bi- und Transsexuelle (deren Förderung jedenfalls nicht dezidierter Gegenstand des Parteiprogramms der Partei der AfD-Landtagsfraktion ist) als einen politischen Skandal verstehen und aufbauschen mag, gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Gerade dann mag man das politisch im Meinungskampf eher als „Verlangen“ einer „Zählung“ beschreiben, mag es – was das Oberlandesgericht zugunsten der AfD-Landtagsfraktion sogar unterstellt – der Abgeordneten damals tatsächlich23 nur um die Frage nach vorhandenen Material gegangen sein mag, um ihre These zu belegen, dass öffentliche Mittel nach dem Gießkannenprinzip ohne Erfassung der tatsächlichen Grundlagen und des genauen Bedarfs aus politischen Gründen für eine Förderung verschwendet werden. Diese Anfrage negativ zu bewerten, steht aber in einer Demokratie den Verfügungsbeklagten schon deswegen frei, weil eben ausgerechnet die Förderung der benannten Gruppen mit der zugespitzten Kleinen Anfrage angegriffen worden ist und nicht etwa anderweitige Förderungen und politisch motivierte Entwicklungen, bei denen man bisweilen möglicherweise ganz ähnliche Fragen hätte stellen können. Vergessen werden darf zudem nicht, dass die Frage nach (vorhandenen) Zahlen immer auch impliziert, dass zuvor gezählt worden sein muss; dies als „Aufforderung“ zum Zählen zu verstehen und zu bewerten, ist nicht ganz fernliegend.
Die so verstandene Äußerung ist dann aber hinzunehmen, weil die Bewertung auf einem unstreitig wahren Tatsachenkern aufsetzt. Sie ist auch nicht – was auch gar nicht explizit gerügt wird – unter dem Gesichtspunkt der bewusst unvollständigen Berichterstattung24 zu beanstanden, weil es erkennbar nur um eine schlagwortartige Darstellung der beispielhaften „Sündenfälle“ geht und eine dezidiertere Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Kleinen Anfrage und den möglichen Deutungsvarianten derselben dem genauen sozialen Geltungsanspruch der AfD-Landtagsfraktion nicht weniger abträglich gewesen wäre.
Schließlich liegt – entgegen der AfD-Landtagsfraktion – auch ersichtlich keine Schmähkritik vor; insbesondere nicht in dem hier allein streitgegenständlichen Passus (§ 308 ZPO). Ein Vorwurf faschistischer Grundhaltungen kann zwar je nach den Gesamtumständen darunter zu fassen sein, wenn eine Person weder durch ihre Biografie noch durch Äußerungen zu einer solchen Einschätzung Anlass gegeben hat25. Darum geht es bei der AfD-Landtagsfraktion aber nicht. Bei Parteien und deren Einordnung im politischen Meinungskampf ist schon mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 GG hier ein ungleich größerer Freiraum zu gewähren26. Dieser ist hier nicht überschritten.
Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 11. Juli 2019 – 15 U 24/19
- LG Köln, Urteil vom 16.01.2019 – 28 O 369/18[↩]
- OLG Dresden v. 09.05.2017 – 4 U 102/17, NJW-RR 2017, 1254 Rn. 11-15[↩]
- st. Rspr., vgl. BGH v. 04.11.2015 – XII ZB 12/14, Rn. 6 m.w.N.[↩]
- vgl. auch OLG Dresden v. 09.05.2017 – 4 U 102/17, NJW-RR 2017, 1254, 1256; OLG Stuttgart v. 29.05.2013 – 4 U 163/12, NJW-RR 2014, 487, 489; v. 22.07.2003 – 4 W 32/03, NJW-RR 2004, 619, 620; OLG Schleswig v. 03.05.1995 – 15 U 16/94, NVwZ-RR 1996, 103, 104[↩]
- Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 85. EL November 2018, Art.19 Abs. 3 Rn. 39 m.w.N.[↩]
- vgl. auch Remmert, a.a.O., Rn.103[↩]
- statt aller etwa Burkhard/Pfeiffer, in: Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl.2018, Kap. 5 Rn. 127; Kröner, in: Paschke/Berlit/Meyer, Hamburger Kommentar – Gesamtes Medienrecht, 3. Aufl.2016, Kap. 31 Rn. 13[↩]
- statt aller Burkhard, in: Wenzel, a.a.O., Kap. 12 Rn. 44 m.w.N.[↩]
- st. Rspr., vgl. BGH v. 08.07.1980 – VI ZR 177/78 = NJW 1980, 2807, 2808 und zuletzt BGH v. 16.01.2018 – VI ZR 498/16, NZG 2018, 797 Rn. 30[↩]
- BGH a.a.O.[↩]
- Burkhard, in: Wenzel, a.a.O., Kap. 12 Rn. 45 m.w.N.[↩]
- statt alle Sch/Sch/Eisele/Schittenhelm, StGB, 30. Aufl.2019, Vorb. Zu den § 185 ff. Rn. 7b[↩]
- vgl. zu solchen Fällen etwa OLG Stuttgart v. 29.05.2013 – 4 U 163/12, NJW-RR 2014, 487, 489[↩]
- dazu Burkhardt, in: Wenzel, a.a.O. Kap. 12 Rn. 49 a.E.[↩]
- wie etwa die Gefährdung der Funktionstüchtigkeit der Arbeit der Fraktion[↩]
- zu solchen Fällen zuletzt Oberlandesgericht v. 18.10.2018 – 15 U 21/18, n.v.[↩]
- grundlegend BGH v. 15.11.1983 – VI ZR 251/82, GRUR 1984, 231, 232; siehe zudem OLG Dresden v. 09.05.2017 – 4 U 102/17, NJW-RR 2017, 1254 Rn. 28 f.; OLG Brandenburg v.05.12.2016 – 1 U 5/16, BeckRS 2016, 110519 Rn. 37; LG Kleve v. 13.07.2005 – 2 O 224/05, NJW-RR 2005, 1632[↩]
- st. Rspr., vgl. zuletzt BGH v. 16.01.2018 – VI ZR 498/16, NZG 2018, 797 Rn.20 m.w.N.[↩]
- mit einer Wiedergabe des Inhalts der Kleinen Anfrage in indirekter Rede[↩]
- allg. etwa Burkhardt, in: Wenzel, a.a.O. Kap. 4 Rn. 80, 91 ff. m.w.N.[↩]
- BVerfG v. 25.10.2005 – 1 BvR 1696/98, NJW 2006, 207 – Stolpe[↩]
- vgl. allgemein auch noch etwa Burkhardt/Pfeifer, in: Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl.2018, Kap. 4 Rn. 64 – 71 m.w.N.[↩]
- jedenfalls zunächst[↩]
- dazu etwa BGH v. 22.11.2005 – VI ZR 204/04 , NJW 2006, 601[↩]
- Burkhardt/Pfeifer, in: Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl.2018, Kap. 10 Rn. 68 m.w.N.[↩]
- BVerfG v. 22.06.1982 – 1 BvR 1376/79, AfP 1982, 215 – CSU sei die „NPD von Europa“; siehe auch Burkhardt/Pfeifer, in: Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl.2018, Kap. 5 Rn. 100 m.w.N.[↩]