Einstweilige Verfügung ohne vorherige Anhörung – und die prozessuale Waffengleichheit

Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht1 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen2.

Mit dieser Begründung hat das Bundesverfassungsgericht auf Antrag eines von einer ohne Anhörung erlassenen einstweiligen Verfügung des Landgerichts Berlin3 betroffenen Verlages im Wegen einer einstweiligen Anordnung die Wirksamkeit der einstweiligen Verfügung des Landgerichts Berlin vorläufig ausgesetzt:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Die Verlegerin beruft sich darauf, dass sie durch die vollstreckbare Unterlassungsverfügung schwerwiegend in ihrer Berichterstattungsfreiheit eingeschränkt sei. Insbesondere ist es ihr durch die Verfügung vom 18.08.2022 versagt, den am 22.07.2022 in der Printversion erschienenen Artikel über ihre digitalen Verbreitungswege, insbesondere Online-Archiv, für die Öffentlichkeit bereitzuhalten.

Die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung4 führt zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Denn die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren offensichtlich zulässig und begründet5.

Die Verfassungsbeschwerde wurde binnen eines Monats und damit gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG fristgerecht erhoben und ist auch im Übrigen zulässig.

Insbesondere ist der Rechtsweg ungeachtet des fortdauernden Ausgangsverfahrens erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die Verlegerin macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügung geltend. Sie wendet sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kann eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche nicht geltend gemacht werden6, weil er von den Erfolgsaussichten in der Sache abhängt. Auch sonst gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden7.

Zwar kann nicht jede Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Vielmehr bedarf es eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses8. Da die Rechtsbeeinträchtigung der Verlegerin durch die einstweilige Verfügung in Gestalt eines weiterhin vollstreckbaren Unterlassungstitels fortdauert, muss sie hierzu jedoch kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse geltend machen9.

Die einstweilige Verfügung des Landgerichts verletzt die Verlegerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht1 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen2.

Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde10. Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden11. Auch wenn über Verfügungsanträge in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss, berechtigt dies das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten12. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern13.

Dabei ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: der Verfügungsantrag muss im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung müssen mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird14.

Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Verlegerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.

Es bestehen bereits Bedenken, ob der am 17.08.2022 angebrachte Verfügungsantrag unverzüglich gestellt wurde. Denn während die Antragsteller der Verlegerin in ihren Abmahnungsschreiben vom 03. und 5.08.2022 jeweils eine Stellungnahmefrist bis Montag, 8.08.2022, 18 Uhr, einräumten und damit signalisierten, umgehend, nämlich möglicherweise noch am Tag des Fristablaufs selbst gerichtliche Schritte einzuleiten, warteten sie mit ihrer Antragstellung noch bis Mittwoch, 17.08.2022, zu und gaben damit zu erkennen, einer Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes noch nicht notwendig zu bedürfen. Dass der bis zu diesem Tag vergangene Zeitraum gemessen an den erst am 15.08.2022, 18 Uhr, abgelaufenen Fristen zur Stellungnahme auf die weiteren Abmahnungsschreiben vom 11. und 12.08.2022 deutlich kürzer bemessen war, könnte möglicherweise nicht ausschlaggebend sein, da die hierin angegriffenen Beiträge der Verlegerin ebenfalls bereits vom 22. beziehungsweise 23.07.2022 stammten, wie auch die Antragsteller sich in ihrer Antragsschrift zur Begründung sowohl im Tatsächlichen wie im Rechtlichen auf ihre ersten Abmahnungsschreiben bezogen. Zudem baten die Antragsteller in ihrer Antragsschrift zwar „dringlichst“, „schnellstmöglich“ zu entscheiden, begründeten dies jedoch gleichzeitig mit bevorstehenden Urlauben ab dem 27.08.2022 und benannten damit einen Zeitraum, innerhalb dessen eine Entscheidung über ihren Antrag einschließlich der Veranlassung ihrer Bekanntgabe im Wege des Parteibetriebs gemäß § 936 ZPO in Verbindung mit § 922 Abs. 2 ZPO auch unter Anhörung der Verlegerin ohne weiteres möglich gewesen wäre. Gaben sie damit aber zu erkennen, auch eine durch ihren Bevollmächtigten bis spätestens am 26.08.2022 veranlasste Bekanntgabe als rechtswahrend zu betrachten, könnte auch dies gegen die Annahme einer Dringlichkeit sprechen, die einer Anhörung der Verlegerin – gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail15 – entgegengestand.

Indes braucht diese Frage nicht entschieden zu werden, da zwar das in den einzelnen Abmahnungsschreiben genannte Unterlassungsbegehren mit dem die Abmahnungsschreiben zusammenfassenden Unterlassungsbegehren der Antragsschrift identisch war, nicht jedoch die hierfür in den Abmahnungsschreiben einerseits und der Antragsschrift andererseits enthaltene Begründung. Denn die Begründung der Antragsschrift blieb zum einen hinter der Begründung der lediglich als Anlagenkonvolut überreichten Abmahnungsschreiben zurück, soweit sie sich darauf beschränkte, die Antragsteller wehrten sich gegen „unwahre und hochgradig ehrverletzende Tatsachenbehauptungen“; die „Vorwürfe“ entsprächen „nicht der Wahrheit“. Sie reichte zum anderen aber auch über die der Verlegerin zuvor bekanntgegebenen Begründung hinaus, soweit sie erstmals gegenüber dem Landgericht eidesstattliche Versicherungen der Antragsteller jeweils vom 16.08.2022 vorbrachte, in denen diese Hergang und Motivation ihres Verhaltens – in leicht voneinander abweichender Weise – schilderten und durch Versicherung an Eides Statt glaubhaft machten.

Die Außervollzugsetzung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Entscheidung gibt dem Landgericht Berlin Gelegenheit, bei einer neuerlichen Entscheidung beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27. Oktober 2022 – 1 BvR 1846/22

  1. vgl. BVerfGE 70, 180 <188>[][]
  2. vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.> 57, 346 <359>[][]
  3. LG Berlin, Beschluss vom 18.08.2022 – 27 O 340/22[]
  4. vgl. BVerfGE 71, 158 <161> 88, 185 <186> 91, 252 <257 f.> stRspr[]
  5. vgl. zu den Anforderungen näher BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 14 ff. und – 1 BvR 2421/17, Rn. 27 ff. sowie Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 15 ff.; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 14; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 18 ff.; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 21 ff.; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn.19 ff.; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 25 ff.; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 34 ff.; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn.20 ff.[]
  6. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 16; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 16; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 18; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 29; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 16[]
  8. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 11; vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 24; Beschlüsse vom 08.10.2019 – 1 BvR 1078/19 u.a., Rn. 3; vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 9; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 15 ff.[]
  9. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 13; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 16; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 17; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 17[]
  10. vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 15[]
  11. vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 31; Beschlüsse vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 21; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn.20[]
  12. vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 21 ff.[]
  13. BVerfG, Beschlüsse vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 21; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 23; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 22[]
  14. vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 22 ff. sowie Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 18 f.; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 14; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 22; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 25; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 28; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 23[]
  15. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 25[]