Erlass einer einstweiligen Anordnung – ohne vorherige Anhörung

Vor dem Bundesverfassungsgericht war erneut eine Verfassungsbeschwerde wegen eines Verstosses gegen die prozessuale Waffengleichheit bei Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne vorherige Anhörung erfolgreich.

So hat das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden, dass das Landgericht Berlin1 die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichem Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG verletzt hat, indem es ohne vorherige Anhörung eine einstweilige Verfügung erlassen hat.

Das zugrundeliegende Verfahren betrifft die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen gegen einen Presseverlag. Das Landgericht hatte im Ausgangsverfahren ohne vorherige Anhörung der Verlegerin in einer äußerungsrechtlichen Sache eine einstweilige Verfügung erlassen. Vor deren Erlass waren mehrere gerichtliche Hinweise an die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens ergangen, infolge derer sie ihren Vortrag ergänzte und die Anträge teilweise zurückgenommen hatte, ohne dass die Verlegerin hiervon Kenntnis hatte oder ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt worden wäre. Dies verletzt die Verlegerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit. Den wiederholten Verstoß der Fachgerichte gegen das Gebot der Waffengleichheit bei einstweiligen Anordnungen nahm das Bundesverfassungsgericht erneut2 erneut zum Anlass, auf die rechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen.

Das Verfügungsverfahren vor dem Landgericht Berlin

Gegenstand des zugrundeliegenden Verfahrens war die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen. Im September 2020 berichtete die Verlegerin – ein Presseverlag – in Wort und Bild über die Feier eines Richtfestes für das im Bau befindliche Anwesen der prominenten Antragstellerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: die Antragstellerin). Auf mehreren Fotos waren neben der Antragstellerin und ihrem Lebensgefährten der Rohbau des Hauses und die Gäste bei der Feierlichkeit zu sehen. Die Berichterstattung befasste sich unter anderem kritisch mit der Art und Weise der Durchführung der Feier während der aktuellen Corona-Pandemie.

Die Antragstellerin mahnte die Verlegerin hinsichtlich bestimmter Teile der Wortberichterstattung sowie der gesamten Bildberichterstattung ab und forderte die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung. Die Verlegerin wies die geltend gemachten Ansprüche zurück. Im Oktober 2020 stellte die Antragstellerin beim Landgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Die Pressekammer des Landgerichts erteilte einen gerichtlichen Hinweis, worin sie Bedenken äußerte, allein der Antragstellerin und gewährte nur ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. Nach Erwiderung der Antragstellerin erging erneut ein allein an sie gerichteter Hinweis des Gerichts, worauf hin die Antragstellerin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung teilweise zurücknahm. Das Landgericht erließ anschließend „wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ die angegriffene einstweilige Verfügung, die der Verlegerin Teile der Wort- und Bildberichterstattung untersagte. Die einstweilige Verfügung wurde der Verlegerin am 7.12.2020 zugestellt.

Am 8.12.2020 baten die Bevollmächtigten der Verlegerin das Landgericht um Übersendung etwaiger gerichtlicher Schreiben oder Aktennotizen in der vorliegenden Sache. Die Unterlagen gingen erst am 5.01.2021 bei den Bevollmächtigten der Verlegerin ein.

Die Verlegerin legte mit Schriftsatz vom 18.01.2021 Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung ein und beantragte die Aussetzung der Zwangsvollstreckung.

Die Verfassungsbeschwerde

Mit beim Bundesverfassungsgericht am 19.01.2021 eingegangener Beschwerdeschrift erhob die Verlegerin Verfassungsbeschwerde und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Sie rügte eine Verletzung ihres Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit durch die Pressekammer des Landgerichts Berlin sowie ihrer Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG. Die Verlegerin rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit sowie ihrer Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG.

Mit Beschluss vom 28.01.2021 stellte das Landgericht die Zwangsvollstreckung aus der einstweiligen Verfügung vom 10.11.2020 einstweilen bis zur Entscheidung im Widerspruchsverfahren ein. Zur Begründung verwies es auf einen an die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens ergangenen Hinweis vom 21.01.2021. Hierin führte die Kammer aus, dass sie nicht der Ansicht sei, die Verlegerin in ihrem Recht auf prozessuale Waffengleichheit verletzt zu haben. Die Hinweise seien nur zu Lasten der Antragstellerin gegangen und hätten zudem zu einer teilweisen Antragsrücknahme geführt. Da sich die einstweilige Verfügung mit dem decke, was im Rahmen der vorprozessualen Abmahnung geltend gemacht worden sei, bestehe kein Informationsvorsprung auf Seiten der Antragstellerin. Im Hinblick auf die zuletzt ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beabsichtige die Kammer dennoch, dem Antrag der Verlegerin zu entsprechen.

Daraufhin erklärte die Verlegerin ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für erledigt und beantragte diesbezüglich Auslagenerstattung durch das Land Berlin.

Auf die mündliche Verhandlung vom 02.03.2021 hin bestätigte das Landgericht mit Urteil vom gleichen Tag die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene einstweilige Verfügung vom 10.11.2020. Am 4.05.2021 setzte das Landgericht auf Antrag der Verlegerin der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens eine Frist zur Klageerhebung (§§ 936, 926 Abs. 1 ZPO).

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und stellte fest, dass der Beschluss des Landgerichts Berlin die Verlegerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 GG verletzt.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen vor. Die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Rechte der Verlegerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig3.

Die Verlegerin hat die Verfassungsbeschwerde zwar nicht innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erhoben, ihr ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Der Beschluss des Landgerichts wurde der Verlegerin am 7.12.2020 zugestellt, die Beschwerdefrist war damit gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfGG bei Eingang der Verfassungsbeschwerde am 19.01.2020 bereits verstrichen. Entgegen der Ansicht der Verlegerin ändert hieran auch die deutlich hinausgezögerte Zusendung der gerichtlichen Hinweise durch das Landgericht nichts. Es handelt sich dabei nicht um einen weiteren isolierten Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit. Vielmehr ist das Vorgehen des Landgerichts eine Fortführung der im Erlassverfahren erfolgten Verstöße. Der Beginn der Monatsfrist mit Zustellung der angegriffenen Entscheidung ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG.

Der Verlegerin ist jedoch auf ihren fristgerechten Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 93 Abs. 2 BVerfGG zu gewähren. Die erst sehr späte Möglichkeit zur Kenntnisnahme der allein an die Antragstellerin ergangenen gerichtlichen Hinweise stellt einen von der Verlegerin nicht verschuldeten Hinderungsgrund dar.

Tauglicher Hinderungsgrund im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist jeder Grund, der es dem Beschwerdeführer – trotz dessen Willen die Verfahrenshandlung rechtzeitig vorzunehmen – objektiv unmöglich oder subjektiv unzumutbar macht, die streitgegenständliche Handlung in der Frist vorzunehmen4. Verschuldet ist ein Fristversäumnis dann, wenn der Beschwerdeführer die Frist wegen fahrlässigen oder vorsätzlichen Verhaltens nicht einhalten konnte. Angesichts des Bezugs zu Art. 103 Abs. 1 und Art.19 Abs. 4 GG dürfen die Anforderungen an die individuellen Sorgfaltspflichten nicht überspannt werden5. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags müssen sowohl der Hinderungsgrund als auch die Umstände, die für die Beurteilung des Verschuldens maßgebend sind, dargelegt werden. Erforderlich ist eine substantiierte und schlüssige Darstellung der für die unverschuldete Fristversäumnis wesentlichen Tatsachen6.

Der Verlegerin lagen die vom Landgericht der Antragstellerin erteilten Hinweise erst am 5.01.2021 vor. Zwar ergab sich bereits aus dem Schriftsatz der Antragstellerin vom 28.10.2020, der der Verlegerin mit der einstweiligen Verfügung am 7.12.2020 übermittelt worden war, dass das Landgericht mindestens einen Hinweis erteilt hatte. Ohne Kenntnis des genauen Inhalts der der Antragstellerin erteilten gerichtlichen Hinweise war es den Bevollmächtigten der Verlegerin jedoch nicht möglich, die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde abschließend zu beurteilen. Der Verlegerin verblieben bei Eintreffen der Abschriften am 5.01.2021 von der Monatsfrist nur noch zwei Tage für die rechtliche Bewertung und das Verfassen einer Beschwerdeschrift. Angesichts dessen war es der Verlegerin nicht zuzumuten, innerhalb dieser kurzen Zeit noch fristgemäß Verfassungsbeschwerde zu erheben.

Zudem beruht die späte Zusendung der Unterlagen nach dem Vorbringen der Verlegerin allein auf der Untätigkeit des Landgerichts. Die Verlegerin trifft damit kein Verschulden. Bereits mit Schriftsatz vom 08.12.2020 hatten die Bevollmächtigten der Verlegerin beim Landgericht die Übersendung etwaiger gerichtlicher Schreiben oder Aktennotizen erbeten. Sie hatten sich unmittelbar nach Kenntnis der gegen die Verlegerin ergangenen Verfügung darum bemüht, an alle für die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde notwendigen Unterlagen zu gelangen. Da das Landgericht zunächst untätig blieb, gingen die Abschriften der Hinweise erst nach zweimaliger Nachfrage und nahezu einen Monat später bei den Bevollmächtigten der Verlegerin ein.

Eine Wiedereinsetzung ist damit geboten.

Der Rechtsweg ist erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die Verlegerin macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung geltend. Sie wendet sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche kann insbesondere mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung (§ 924 Abs. 3 i.V.m. § 707 Abs. 1 Satz 2 ZPO) nicht geltend gemacht werden, denn im Rahmen dessen sind die Erfolgsaussichten in der Sache maßgeblich7. Auch darüber hinaus gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden8.

Wie das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach betont hat, kann nicht jede Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Vielmehr bedarf es eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses9.

Die bloße Geltendmachung eines error in procedendo genügt hierfür nicht10. Anzunehmen ist ein Feststellungsinteresse jedoch insbesondere, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu befürchten ist11, also eine hinreichend konkrete Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten rechtlichen und tatsächlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergehen würde. Dafür bedarf es näherer Darlegungen12. Das Bestehen einer Wiederholungsgefahr setzt demnach voraus, dass die Zivilgerichte die aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen grundsätzlich verkennen und ihre Praxis hieran unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht ausrichten13.

Solch ein besonderes Feststellungsinteresse ist vorliegend gegeben. Ausweislich des Vortrags der Verlegerin sowie vier innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums aufgrund von Entscheidungen der Berliner Pressekammer ergangenen einstweiligen Anordnungen14 handelt es sich bei der angegriffenen Vorgehensweise des Landgerichts um keinen Einzelfall. Zudem verdeutlichen auch die Ausführungen der Pressekammer selbst in ihrem Hinweis vom 21.01.2021, dass ein grundsätzliches Missverständnis darüber besteht, wann richterliche Hinweise der Gegenseite zur Kenntnis zu bringen sind.

Der Erlass der einstweiligen Verfügung durch das Landgericht hat die Verlegerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG verletzt.

Die hier maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden15.

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht16 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen17. Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde18. Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden19.

Auch wenn über Verfügungsanträge in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss, berechtigt dies das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten20. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern21.

Gehör ist insbesondere auch zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt22. Entsprechend ist es verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, indem auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitgeteilt werden. Dies gilt insbesondere, wenn es bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben. Soweit Hinweise erteilt werden, ist der Gegenseite dies mit Blick auf die Nutzung dieser Hinweise in diesem oder in anderen gegen den Antragsgegner gerichteten Verfahren selbst im Falle der Ablehnung eines Antrags unverzüglich mitzuteilen23. Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar24.

Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Verlegerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.

Durch Erlass der einstweiligen Verfügung ohne jegliche Einbeziehung der Verlegerin war vorliegend keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber der Verfahrensgegnerin gewährleistet. Das Landgericht äußerte sich im Rahmen seiner schriftlichen Hinweise allein gegenüber der Antragstellerin zu seiner vorläufigen Rechtsauffassung in der Sache. Die Antragstellerin hatte daraufhin Gelegenheit Stellung zu nehmen, ergänzte ihren Vortrag mit dem Schriftsatz vom 28.10.2020 und nahm ihren Antrag auf den zweiten richterlichen Hinweis vom 03.11.2020 hin teilweise zurück. Die Verlegerin hingegen erfuhr erst nach Erlass der sie belastenden einstweiligen Verfügung, dass ein Verfahren anhängig war und dass das Gericht Hinweise erteilt hatte. Auch eine Gelegenheit, sich zum weiteren Vorbringen der Antragstellerin zu äußern, wurde ihr nicht gegeben. Erschwerend kommt hinzu, dass das Landgericht der Verlegerin erst nach mehrmaliger Nachfrage und zudem acht Wochen nach Erlass der gegen sie gerichteten einstweiligen Verfügung die gerichtlichen Hinweise zukommen ließ, so dass der Verlegerin erst ab diesem Zeitpunkt das gesamte Prozessgeschehen bekannt war.

Dass rechtliches Gehör zu gewähren ist, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt, hatte das Bundesverfassungsgericht dem Landgericht Berlin in bereits zwei Entscheidungen aus dem letzten Jahr mitgeteilt25. Auch vorliegend wäre die Einbeziehung der Verlegerin durch das Gericht vor Erlass der Verfügung offensichtlich geboten gewesen. In den nahezu vier Wochen zwischen Eingang des Verfügungsantrags am 14.10.2020 bei Gericht und dem Erlass der einstweiligen Verfügung am 10.11.2020 bestand hinreichend Zeit dafür. Unzulässig ist es jedoch, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten.

Angesichts des Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit kommt es auf eine Prüfung der Verletzung weiterer Grundrechte nicht an.

Der wiederholte Verstoß der Pressekammer des Landgerichts gegen das Gebot der prozessualen Waffengleichheit bei einstweiligen Anordnungen gibt Anlass, auf die rechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, dazu BVerfG, Beschluss vom 27.01.2006 – 1 BvQ 4/06, Rn. 26 ff.). Bei zukünftigen Verstößen gegen die Waffengleichheit durch die Berliner Pressekammer wird das Bundesverfassungsgericht ein Feststellungsinteresse für eine Verfassungsbeschwerde oder einen Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG stets als gegeben ansehen.

Die zusprechende Entscheidung über die Auslagenerstattung im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 1 BvR 123/21

  1. LG Berlin, Beschluss vom 10.11.2020 – 27 O 380/20[]
  2. in Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19[]
  3. vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 16; und vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 13 ff.[]
  4. BVerfGE 71, 305 <348>[]
  5. vgl. BVerfGE 25, 158 <166> 135, 126 <139 Rn. 33>[]
  6. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 09.04.2008 – 2 BvR 454/08, Rn. 3; und vom 25.10.2011 – 2 BvR 751/11, Rn. 4 f.; Beschluss vom 07.03.2017 – 2 BvR 162/16, Rn. 26[]
  7. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; und vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12; und vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 16[]
  9. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 11; und vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 24; Beschlüsse vom 08.10.2019 – 1 BvR 1078/19 u.a., Rn. 3; vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 9; und vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 15 ff.[]
  10. vgl. BVerfGE 138, 64 <87 Rn. 71> m.w.N. – zu Art. 101 Abs. 1 GG[]
  11. vgl. BVerfGE 91, 125 <133>[]
  12. vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.10.2019 – 1 BvR 1078/19 u.a., Rn. 3[]
  13. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 10; vom 23.09.2020 – 1 BvR 1617/20, Rn. 6; und vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 17[]
  14. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20; und vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21[]
  15. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 14 ff.; und vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 27 ff.; sowie die Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 15 ff.; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 14; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn.19 ff.; und vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn.20 ff.[]
  16. vgl. BVerfGE 70, 180 <188>[]
  17. vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.> 57, 346 <359>[]
  18. vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 15[]
  19. vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 31; Beschluss vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 21[]
  20. vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 21 bis 24[]
  21. BVerfG, Beschlüsse vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 21 sowie vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 23[]
  22. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24; siehe auch Beschlüsse vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 16; und vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 23[]
  23. vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 36 und 39[]
  24. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn.19; und vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 23[]
  25. BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn.19 mit Verweis auf den Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24; Beschluss vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 26[]