Verdachtsberichterstattung – der Fall „DeutscheStiftung Organtransplantation ./. taz“

Mit der Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung über eine Organentnahme hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

In dem jetzt vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall nahm die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), die bundesweite Koordinierungsstelle für postmortale Organspenden gemäß § 11 Transplantationsgesetz, die Verlegerin der taz sowie die Journalistin Heike Haarhoff wegen der Veröffentlichung eines Artikels vom 8. Mai 2012 auf Unterlassung in Anspruch. In dem Artikel befasst sich die Journalistin kritisch mit dem damaligen Medizinischen Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation sowie einer konkreten, am 8./9. Dezember 2005 am Universitätsklinikum Düsseldorf erfolgten Organentnahme. In dem Artikel schrieb sie unter anderem:

„[…] Die Herausnahme der Organe […] sollte beginnen. Der junge Kollege, der die hierfür nötigen Formalitäten überprüfen musste, war damals noch nicht lange Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation […]. Aber das kleine Einmaleins der Hirntoddiagnostik […] kannte er. Er wurde stutzig. Es fehlte nicht bloß irgendeine Unterschrift. Es fehlte das komplette zweite ärztliche Protokoll, jenes Dokument also, das hätte bestätigen müssen, dass bei dem Mann […] der zweifelsfreie, vollständige und unwiederbringliche Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen nicht bloß ein einziges Mal diagnostiziert worden war. Sondern dass der Hirntod nach einem gewissen zeitlichen Abstand erneut und von einem zweiten Mediziner nachgewiesen worden war, um wirklich jeden Zweifel auszuschließen. Der Verdacht lag nahe, dass diese zweite Diagnostik schlicht vergessen worden war.

[…] Kaum eine medizinische Prozedur ist so verbindlich geregelt wie die Hirntoddiagnostik. Seit 1997 besteht hierzu eine quasi gesetzliche Regelung durch das Transplantationsgesetz. Danach müssen zwei Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod zweimal bestimmen – und dies auch zweimal dokumentieren, und zwar schriftlich. Die Düsseldorfer Organentnahme hätte unter diesen Umständen nicht stattfinden dürfen.

Dass sie trotzdem erfolgte, geschah mit Billigung und unter der Verantwortlichkeit des Mannes, der damals wie heute an der Spitze der DSO steht: [K.], […], Medizinischer Vorstand der DSO – und damit qua Amt der Monopolist für Leichenorgane in Deutschland. Wie weit [K.s] Macht reicht, macht der weitere Verlauf des Düsseldorfer Hirntod-Dramas deutlich: Eine Mitarbeiterin aus dem nordrhein-westfälischen DSO-Team, die sich für eine Klärung des Falls starkgemacht hatte, bekam die fristlose Kündigung zugestellt – per Bote um Mitternacht.“

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation nahm darauf die Verlegerin und die Redakteurin der tag auf Unterlassung der Äußerungen „es fehlte das komplette zweite ärztliche Protokoll“ und/oder „der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen sei bloß ein einziges Mal diagnostiziert worden“ und/oder „der Verdacht lag nahe, dass diese zweite Diagnostik schlicht vergessen worden war“ […] und „Wie weit K.“s Macht reicht, macht der weitere Verlauf des Düsseldorfer Hirntod-Dramas deutlich: Eine Mitarbeiterin aus dem Nordrhein-Westfälischen DSO-Team, die sich für eine Klärung des Falls stark gemacht hatte, bekam die fristlose Kündigung zugestellt – per Bote um Mitternacht“ in Anspruch.

Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Frankfurt am Main hat der Klage der DSO stattgegeben1, das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat die Berufung der Verlegerin und der Redakteurin zurückgewiesen2. Die vom Bundesgerichtshof zugelassene Revision der Verlegerin und der Redakteurin führte nun zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Abweisung der Klage der Deutschen Stiftung Organtransplantation.

Die Frankfurter Richter hätten, so der Bundesgerichtshof, den Äußerungen einen unzutreffenden Sinngehalt entnommen. In ihrer zutreffenden Sinndeutung sind sie dagegen zulässig, da sie entweder wahr sind oder aber zumindest in Wahrnehmung berechtigter Interessen (Art. 5 Abs. 1 GG, § 193 StGB) erfolgt sind:

Bei korrekter Ermittlung des Aussagegehalts habe die taz die Aussage, der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen sei bloß ein einziges Mal diagnostiziert worden, in Bezug auf den Betroffenen und die streitgegenständliche Organentnahme nicht getätigt, so dass sie nicht verboten werden kann.

Dagegen beeinträchtigen die Aussagen, die Deutsche Stiftung Organtransplantation habe im Fall des betroffenen Organspenders eine gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG unzulässige Organentnahme zugelassen, weil dabei keine durch einen zweiten Mediziner erfolgte schriftliche Feststellung des Hirntodes vorgelegen habe, sowie, es bestehe der Verdacht, dass diese zweite Diagnostik vergessen worden sei, sowie, die DSO habe auf das Klärungsverlangen einer Mitarbeiterin mit einer fristlosen Kündigung reagiert, zwar das Ansehen und den sozialen Geltungsanspruch der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Die Äußerungen waren aber zulässig.

Bei der beanstandeten Äußerung „es fehlte das komplette zweite ärztliche Protokoll“ handelt es sich um eine wahre Tatsachenbehauptung, an deren Unterlassung ein anerkennenswertes Interesse der Deutschen Stiftung Organtransplantation nicht erkennbar ist. Der unbefangene Durchschnittsleser muss die Darlegungen im Artikel so verstehen, dass damit die schriftlich dokumentierte Feststellung des Hirntodes des Betroffenen durch einen zweiten Mediziner gemeint ist. Dass dieses Dokument bei der streitgegenständlichen Organentnahme nicht vorlag, hat das Oberlandesgericht Frankfurt in seinem Berufungsurteil festgestellt.

Die Aussage, es bestehe der Verdacht, dass die zweite Diagnostik vergessen worden sei, stellt, so der Bundesgerichtshof weiter, eine Verdachtsbehauptung mit Meinungsbezug dar, die dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfällt. Die damit nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung vorzunehmende Abwägung (§ 193 StGB, Art. 5 Abs. 1 GG), geht für den maßgeblichen Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels zu Lasten der Deutschen Stiftung Organtransplantation aus. Die Berichterstattung war durch die Wahrnehmung berechtigter Informationsinteressen der Öffentlichkeit gerechtfertigt. Es bestand ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprachen. Die Behauptung, die abschließende Diagnose eines zweiten Mediziners habe (gar) nicht vorgelegen, wird in dem Artikel nicht als wahr hingestellt. Die Redakteurin hatte dem Medizinischen Vorstand der DSO zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und hat auch deren Position – es habe eine schriftliche Diagnose eines zweiten Mediziners gegeben, das Schriftstück habe aber nicht mehr aufgefunden werden können – wiedergegeben. Schließlich ist der Gegenstand des Berichts von erheblichem öffentlichem Interesse und in Wahrnehmung der originären Aufgabe der Tageszeitung, der Kontrollfunktion der Presse, erfolgt.

Die Aussage, die Deutsche Stiftung Organtransplantation habe auf ein Verlangen nach Klärung durch eine Mitarbeiterin mit deren fristlosen Kündigung reagiert, qualifiziert der Bundesgerichtshof als Meinungsäußerung, die dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfällt. Sie enthält nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Lesers eine subjektive Wertung in Bezug auf die hinter der Kündigung stehende Motivation der für die DSO handelnden Personen. An der Äußerung der Schlussfolgerungen und Wertungen, die die Beklagten aus dem im Kern wahren Sachverhalt in Bezug auf die Frage ableiten, mit welcher Motivation die Kündigung erfolgte und ob sie berechtigt war, besteht unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit ein schützenswertes Interesse, Art. 5 Abs. 1 GG.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 12. April 2016 – VI ZR 505/14

  1. LG Frankfurt am Main, Urteil vom 31.10.2013 – 2-03 O 363/12[]
  2. OLG Frankfurt am Main, Urteilvom 06.11.2014 – 16 U 218/13[]