Gerichtsberichterstattung und sitzungspolizeiliche Anordnungen

Gegen die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden einer Strafkammer des Landgerichts, nach der nur verpixelte Bildaufnahmen von Prozessbeteiligten veröffentlicht werden dürfen, muss zunächst Beschwerde zum Oberlandesgericht erhoben werden.

Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verlangt, vor der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde vorrangig alle anderen nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe zu ergreifen. Ein solcher Fall offensichtlicher Unzulässigkeit war in dem hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall nicht gegeben, so dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat:

Der Ausgangssachverhalt[↑]

Die Beschwerdeführerin ist eine bekannte Verlagsgesellschaft, die unter anderem die Tageszeitungen „BILD“ und „Die Welt“ herausgibt. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren vor dem Landgericht Oldenburg wurde dem Angeklagten vorgeworfen, einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke auf einen Personenkraftwagen geworfen und dadurch die Beifahrerin getötet zu haben. Die Tat und die Strafverfolgung fanden bundesweit ein hohes mediales Interesse. Nachdem im Rahmen der Berichterstattung über den ersten Verhandlungstag mindestens eine Zeitung unverpixelte Bilder des Angeklagten veröffentlichte, erließ der Vorsitzende Richter eine sitzungspolizeiliche Anordnung auf Grundlage des § 176 GVG, nach der vom Angeklagten und dem Nebenkläger nur verpixelte Bilder veröffentlicht werden dürfen. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen diese sitzungspolizeiliche Anordnung und mittelbar gegen die Versagung eines fachgerichtlichen Rechtsbehelfs durch den Gesetzgeber1.

Die Verfassungsbeschwerde[↑]

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geltend. Ferner rügt sie eine Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG, hilfsweise des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs aus Art.20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, weil es gegen die Verfügung des Vorsitzenden Richters keinen Rechtsschutz gebe.

Einen ursprünglich gleichzeitig gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG hat die Beschwerdeführerin nach dem ablehnenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in einem Parallelverfahren2 zurückgenommen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen: Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie unzulässig ist.

Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung[↑]

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde egen die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden der 5. Strafkammer am Landgericht O. wendet, hat die Beschwerdeführerin den Rechtsweg gegen die angegriffene Verfügung nicht erschöpft.

Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Danach muss ein Beschwerdeführer zunächst die ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden, nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe ergreifen; namentlich muss er den ihm nach der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Instanzenzug durchlaufen3. Durch die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte soll dem Bundesverfassungsgericht ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden. Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren und etwaige im Instanzenzug auftretende Fehler durch Selbstkontrolle beheben4.

Zwar gehören offensichtlich unzulässige Rechtsmittel nicht zum Rechtsweg. Andererseits muss der Beschwerdeführer vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf § 90 Abs. 2 BVerfGG von einem Rechtsmittel grundsätzlich auch dann Gebrauch machen, wenn zweifelhaft ist, ob es statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann5. In derartigen Fällen ist es grundsätzlich die Aufgabe der Fachgerichte, über streitige oder noch offene Zulässigkeitsfragen nach einfachem Recht unter Berücksichtigung der hierzu vertretenen Rechtsansichten zu entscheiden. Der Funktion der Verfassungsbeschwerde würde es zuwiderlaufen, sie anstelle oder gleichsam wahlweise neben einem möglicherweise statthaften Rechtsmittel zuzulassen. Es ist daher geboten und einem Beschwerdeführer auch zumutbar, vor der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde die Statthaftigkeit weiterer einfachrechtlicher Rechtsbehelfe sorgfältig zu prüfen und von ihnen auch Gebrauch zu machen, wenn sie nicht offensichtlich unzulässig sind6. Offensichtlich unzulässig ist ein Rechtsmittel nur dann, wenn der Rechtsmittelführer nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre zum maßgebenden Zeitpunkt über dessen Unzulässigkeit nicht im Ungewissen sein konnte7.

Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO[↑]

Hier spricht zumindest vieles dafür, dass das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO gegeben ist. Nach dieser Vorschrift ist die Beschwerde gegen alle von den Gerichten im ersten Rechtszug erlassenen Beschlüsse und Verfügungen des Vorsitzenden statthaft, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich der Anfechtbarkeit entzieht. Gemäß § 304 Abs. 2 StPO steht die Beschwerde grundsätzlich auch nicht verfahrensbeteiligten Personen zu, die durch die richterliche Entscheidung betroffen sind8. Dass die hier angegriffene Verfügung des Vorsitzenden auf Grundlage des § 176 GVG kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung einer Anfechtung entzogen wäre, ist nicht ersichtlich. Dies gilt sowohl mit Blick auf § 305 Satz 1 StPO als auch hinsichtlich § 181 Abs. 1 GVG. Denn § 305 Satz 2 StPO nimmt alle Entscheidungen vom Ausschluss der Beschwerde aus, durch die dritte, nicht verfahrensbeteiligte Personen betroffen werden, und § 181 Abs. 1 GVG enthält seinem Wortlaut nach ebenfalls keinen ausdrücklichen Ausschluss der Anfechtung sitzungspolizeilicher Anordnungen im Sinne des § 176 GVG.

Es ist nicht dargelegt, dass Rechtsprechung und Lehre in einer keine ernstlichen Zweifel mehr zulassenden Weise entsprechende Beschwerden regelmäßig als unstatthaft oder als aus anderen Gründen unzulässig ansehen. Zwar lehnte insbesondere die ältere fachgerichtliche Rechtsprechung eine Beschwerde gegen Verfügungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG ab9 und folgt ein Teil der Literatur bis heute dieser Auffassung10. Der Bundesgerichtshof hat die Frage einer Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen bislang ausdrücklich offengelassen11. Doch sprach sich ein nicht unerheblicher Teil der neueren fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde für die Statthaftigkeit der Beschwerde aus12. Voraussetzung sei, dass der sitzungspolizeilichen Anordnung eine über die Dauer der Hauptverhandlung oder sogar über die Rechtskraft des Urteils hinausgehende Wirkung zukommt und insbesondere Grundrechte oder andere Rechtspositionen des von einer sitzungspolizeilichen Maßnahme Betroffenen dauerhaft tangiert und beeinträchtigt werden. Auch die Kommentarliteratur hatte sich – bezogen auf den Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde – bereits dieser neuen obergerichtlichen Rechtsprechungslinie angeschlossen13. Dieser Ansicht folgen mittlerweile weitere Gerichte14.

Nach den fachgerichtlich entwickelten Kriterien wäre eine Beschwerde gegen die streitgegenständliche sitzungspolizeiliche Verfügung nicht offensichtlich unzulässig gewesen. Dass auch das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit und zuletzt im Jahr 2007 angenommen hat, ein Rechtsweg gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG sei nicht eröffnet15, steht dem nicht entgegen. Denn im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde war nach der weitgehenden Änderung der Auffassung in fachgerichtlicher Rechtsprechung und Literatur ein Rechtsmittel nach § 304 Abs. 1 StPO nicht mehr offensichtlich unzulässig. Die Verpixelungsanordnung reicht über die Dauer der Hauptverhandlung und sogar über die Rechtskraft des Urteils hinaus, denn sie untersagt das Veröffentlichen nicht anonymisierter Aufnahmen des Angeklagten sowie des Nebenklägers vor und nach den Sitzungen der Strafkammer zeitlich unbeschränkt. Auch dient die Anordnung nicht lediglich der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung, sondern vielmehr dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von Angeklagtem und Nebenkläger. Sie war darauf gerichtet, die Wirkungen einer nicht anonymisierten Abbildung gerade des Angeklagten außerhalb des Verfahrens einzuschränken, um dem rechtsstaatlichen Gebot der Unschuldsvermutung gerecht zu werden. Schließlich reicht die sitzungspolizeiliche Verfügung auch insoweit über den Gang der Hauptverhandlung hinaus, als sie nicht nur prozessuale Rechte der nicht verfahrensbeteiligten Beschwerdeführerin tangiert, sondern darüber hinaus in ihre Pressefreiheit eingreift.

Versagung fachgerichtlichen Rechtsschutzes[↑]

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung eines fachgerichtlichen Rechtsbehelfs gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG durch den Gesetzgeber richtet, ist sie wegen mangelnden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Das Prozessrecht hält mit §§ 304, 306 StPO ein Rechtsmittel bereit, dessen Anwendungsbereich von den Fachgerichten – jedenfalls heute – in grundrechtsfreundlicher, der Garantie effektiven gerichtlichen Rechtsschutz (Art.19 Abs. 4 GG) Rechnung tragender Auslegung so weit gezogen wird, dass er die streitgegenständliche sitzungspolizeiliche Anordnung bereits erfasst.

Dass § 304 Abs. 4 StPO Beschlüsse und Verfügungen des Bundesgerichtshofs sowie eines Oberlandesgerichts – mithin auch sitzungspolizeiliche Anordnungen, die der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht im ersten Rechtszuge trifft – von der Anfechtung ausnimmt, lässt mit Blick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes zwar weiterhin Fragen offen, braucht im vorliegenden Verfahren jedoch nicht entschieden zu werden. Auch hier ist im Übrigen eine Auslegung nicht ausgeschlossen, wonach die Aufzählung in § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO grundrechtskonform um Verfügungen des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht zu erweitern ist, die über die Hauptverhandlung hinausgehen und Grundrechte des Betreffenden beeinträchtigen. Bereits in der Vergangenheit hat der Bundesgerichtshof eine Analogie in Fallgestaltungen zugelassen, die besonders nachteilig in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen16.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. April 2015 – 1 BvR 3276/08

  1. LG Oldenburg, Sitzungspolizeiliche Anordnung vom 14.11.2008 – 5 Ks 8/08[]
  2. BVerfG, Beschluss vom 27.11.2008 – 1 BvQ 46/08, NJW 2009, 350 ff.[]
  3. BVerfGE 68, 376, 380[]
  4. BVerfGE 68, 376, 380 m.w.N.[]
  5. vgl. BVerfGE 16, 1, 2 f.; 91, 93, 106; vgl. auch BVerfGE 5, 17, 19; 107, 299, 309[]
  6. BVerfGE 68, 376, 381 m.w.N.; siehe auch BVerfGK 15, 484, 489; BVerfG, Beschluss vom 14.10.2009 – 1 BvR 2436/09 4[]
  7. vgl. BVerfGE 28, 1, 6; 48, 341, 344; 49, 252, 255; BVerfG, Beschluss vom 14.10.2009 – 1 BvR 2436/09 4[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2009 – 1 BvR 2436/09 5; ferner BGH, Beschluss vom 18.01.2005 – StB 6/04 4; Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl.2013, § 304 Rn. 28[]
  9. vgl. OLG Köln, Beschluss vom 22.05.1963 – 2 W 63-65/63, NJW 1963, S. 1508, 1508; OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.11.1968 – Ws 506/68, MDR 1969, S. 600, 600; OLG Hamm, Beschluss vom 01.02.1972 – 3 Ws 27/72, NJW 1972, S. 1246, 1247; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 26.03.1987 – 1 Ws 139-142/87, NStZ 1987, S. 477, 477; OLG Hamburg, Beschluss vom 10.06.1976 – 3 Ws 18/76, NJW 1976, S.1987, 1987; Beschluss vom 10.04.1992 – VAs 4/92, NStZ 1992, S. 509, 509[]
  10. vgl. Allgayer, in: Graf, StPO, 2. Aufl.2012, GVG § 181 Rn. 1; Kaehne, Die Anfechtung sitzungspolizeilicher Maßnahmen, 2000, S. 76 ff.; Jahn, NStZ 1998, S. 389, 392; Lehr, NStZ 2001, S. 63, 66[]
  11. vgl. BGHSt 44, 23, 25[]
  12. vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.08.1976 – 2 Ws 143/76, NJW 1977, S. 309, 309 f.; OLG München, Beschluss vom 14.07.2006 – 2 Ws 679/06 u.a., NJW 2006, S. 3079, 3079; LG Ravensburg, Beschluss vom 27.01.2007 – 2 Qs 10/07, NStZ-RR 2007, S. 348, 348 f.; LAG Niedersachsen, Beschluss vom 29.09.2008 – 16 Ta 333/08 8[]
  13. vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl.2008, GVG § 176 Rn. 16; Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl.2008, GVG § 176 Rn. 7; noch weitergehend jetzt Velten, in: Wolter, SK-StPO, 4. Aufl.2013, Band IX, GVG § 176 Rn. 17[]
  14. vgl. LG Mannheim, Beschluss vom 27.01.2009 – 4 Qs 52/08, NJW 2009, S. 1094 ff.; KG, Beschluss vom 27.05.2010 – 4 Ws 61/10, NStZ 2011, S. 120, 120; OLG Stuttgart, Beschluss vom 29.06.2011 – 4 Ws 136/11, NJW 2011, S. 2899, 2899; OLG Hamm, Beschluss vom 24.11.2011 – 3 Ws 370/11, NStZ-RR 2012, S. 118, 118 f.[]
  15. vgl. BVerfGE 87, 334, 338 f.; 91, 125, 133; 103, 44, 58; 119, 309, 317[]
  16. vgl. BGH, Beschluss vom 05.11.1999 – StB 1/99, NJW 2000, S. 1427, 1428 m.w.N.[]