Äußerungsrechtliche Verfahren – und eine einstweilige Verfügung ohne Anhörung?
Die Anforderungen, die sich aus der prozessualen Waffengleichheit in äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren ergeben, sind durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eingehend verfassungsgerichtlich klargestellt1.
Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen die einstweilige Verfügung
Die Verfassungsbeschwerde der Antragsgegnerin im einstweiligen Verfügungsverfahren ist zulässig2, soweit diese ine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügung geltend macht und sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte wendet.
Insbesondere mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kann eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche nicht geltend gemacht werden3, weil er von den Erfolgsaussichten in der Sache abhängt. Auch sonst gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden4.
Da die Rechtsbeeinträchtigung durch die Verfügung in Gestalt eines weiterhin vollstreckbaren Unterlassungstitels fortdauert, muss die Beschwerdeführerin hierzu kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse geltend machen5.
Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde gegen die einstweilige Verfügung
Die ohne Anhörung der Antragsgegnerin erlassene einstweilige Verfügung des Landgerichts verletzt diese in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG. Die hier maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden6.
Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Es muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit eingeräumt werden, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht7 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen8. Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass sonst der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde9.
Von der Frage der Anhörung und Einbeziehung der Gegenseite zu unterscheiden ist die Frage, in welchen Fällen über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann. Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliegt und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die Fachgerichte einen weiten Wertungsrahmen. Die Annahme einer Dringlichkeit setzt freilich sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechend zügige Verfahrensführung voraus10.
Über eine einstweilige Verfügung wird in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten gleichwohl angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden müssen. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtigt ein Gericht jedoch nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag generell aus dem Verfahren herauszuhalten11. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.
Dabei ist von Verfassung wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in solchen Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: der Verfügungsantrag muss im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung muss mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird.
Gehör ist auch zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt12. Entsprechend ist es verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, indem auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitgeteilt werden. Dies gilt insbesondere, wenn es bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben13. Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar14.
Nach diesen, der Pressekammer des Landgerichts Berlin nicht zuletzt aus dem Verfahren Az. 1 BvR 1380/20 bekannten Maßstäben verletzt der hier angegriffene Beschluss des Landgerichts Berlin15 die Beschwerdeführerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.
Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin war vorliegend keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber dem Verfahrensgegner gewährleistet. Zwar hatte der Antragsteller des Ausgangsverfahrens die Beschwerdeführerin außerprozessual abmahnen lassen; die Beschwerdeführerin hatte auf eine Erwiderung verzichtet. Bereits der Blick auf den Umfang des Vortrags hinsichtlich der Abmahnung (20 Seiten) und den Umfang des Vortrags im Antragsschriftsatz (42 Seiten nebst eidesstattlicher Versicherung und Kurzgutachten) hätte dem Gericht vor Augen führen können und müssen, dass eine Kongruenz nicht gegeben war. Die Beschwerdeführerin hätte Gelegenheit bekommen müssen, sich zu dem weiteren und ergänzten Vortrag sowie zu dem modifizierten Antrag zu äußern. Der Verzicht der Beschwerdeführerin auf eine Äußerung auf die außergerichtliche Abmahnung hin kann, wenn der bei Gericht eingereichte Vortrag nicht mehr als deckungsgleich mit dem der Abmahnung angesehen werden kann, auch nicht als Verzicht auf eine prozessual gebotene Anhörung missverstanden werden. Schon aus dem Umstand der ersichtlich fehlenden Kongruenz des Vortrags ergab sich, dass das Gericht im Sinne gleichwertiger Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeiten der Beschwerdeführerin – gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail – Gelegenheit hätte geben müssen, den Vortrag des Antragstellers zumindest zur Kenntnis zu nehmen und ihrerseits zu erwidern16. Hinzu kommt, dass in den drei Wochen zwischen Eingang des Antrags am 6.10.2020 und der Entscheidung des Gerichts am 27.10.2020 hinreichend Zeit für eine Einbindung der Beschwerdeführerin bestanden hat.
Erst recht hätte das Gericht der Beschwerdeführerin aufgrund des gerichtlichen Hinweises vom 08.10.2020 und des vom Antragsteller daraufhin angepassten Antrags vom 22.10.2020 Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen. Dass rechtliches Gehör zu gewähren ist, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt, hatte die Kammer noch im Juni dieses Jahres in ihrem ebenfalls ein Verfahren der Berliner Pressekammer betreffenden Verfahren Az. 1 BvR 1246/20 ausgeführt17. Es ist verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, indem auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitgeteilt werden. Dies gilt insbesondere, wenn es – wie vorliegend – bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben. Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne die Antragsgegnerin in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar18.
Die Einbeziehung der Beschwerdeführerin durch das Gericht vor Erlass der Verfügung wäre offensichtlich geboten gewesen. Eine solche Frist zur Stellungnahme hätte kurz bemessen sein können. Unzulässig ist es jedoch, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten.
Angesichts des Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit kommt es auf eine Prüfung der Verletzung weiterer Grundrechte nicht an.
Die Außervollzugsetzung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Entscheidung gibt dem Landgericht Berlin Gelegenheit, bei einer neuerlichen Entscheidung beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Dezember 2020 – 1 BvR 2740/20
- vgl. die BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17 – und 1 BvR 2421/17; Beschluss vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20 – und – ein Verfahren der auch hier involvierten Pressekammer des Landgerichts Berlin betreffend – Beschluss vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; und vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; und vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; und vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 13; und vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[↩]
- vgl. die Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 14 ff., und – 1 BvR 2421/17, Rn. 25 ff. sowie BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 15 ff.; und vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 14[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 180 <188>[↩]
- vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.> 57, 346 <359>[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 14 bis 16[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn.19 f.[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 21 bis 24[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 16[↩]
- vgl. zur Identität von Abmahnung und Antrag im Verfügungsverfahren BVerfG, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 13 f.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24; Beschluss vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn.19[↩]
- LG Berlin, Beschluss vom 27.10.2020 – 27 O 374/20[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 14, wonach im lauterkeitsrechtlichen Verfügungsverfahren der Antragsgegnerseite bereits bei kleinsten Abweichungen rechtliches Gehör zu gewähren ist[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn.19, mit Verweis auf den Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 24; Beschluss vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn.19[↩]