Angemessener Nachtarbeitszuschlag für Zeitungszusteller

§ 6 Abs. 5 ArbZG verpflichtet den Arbeitgeber, soweit eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung nicht besteht, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren.

Eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung bestand im hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Streitfall nicht. Der klagende Zeitungszusteller war im streitgegenständlichen Zeitraum unstreitig Nachtarbeitnehmer iSd. Arbeitszeitgesetzes (§ 2 Abs. 3 bis 5 ArbZG). Er hat, soweit Entgeltdifferenzen gefordert werden, ausschließlich während der gesetzlichen Nachtzeit in dem gesetzlich geforderten Umfang gearbeitet. Die Arbeitgeberin hat das ihr im Rahmen von § 6 Abs. 5 ArbZG zustehende Wahlrecht für den streitgegenständlichen Zeitraum dahin ausgeübt, den Ausgleichsanspruch allein durch Zahlung von Geld zu erfüllen1.

Bei dem Merkmal „angemessen“ in § 6 Abs. 5 ArbZG handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dessen Anwendung dem Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum zukommt. Er ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist2. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stand.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt ein Zuschlag in Höhe von 25 % auf das jeweilige Bruttostundenentgelt oder die Gewährung einer entsprechenden Zahl von bezahlten freien Tagen regelmäßig einen angemessenen Ausgleich für geleistete Nachtarbeit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG dar. Eine Erhöhung des Regelwerts auf 30 % kommt typischerweise bei einer Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit in Betracht. Allerdings handelt es sich bei diesen Werten nicht um starre Grenzen. Demnach kann sowohl ein geringerer als auch ein höherer Zuschlag angemessen sein; es handelt sich weder um Unter- noch um Obergrenzen3. Für die Zeitungszustellung in Dauernachtarbeit hat das Bundesarbeitsgericht in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass ein Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 30 % angemessen iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG ist. Das Bundesarbeitsgericht hat dabei insbesondere umfangreich begründet, dass der Schutz der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in Abwägung mit dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht dazu führen kann, die Zuschläge nach § 6 Abs. 5 ArbZG gegenüber der regelmäßig anfallenden Höhe abzusenken4.

Dem entspricht die Entscheidung des hier in der Vorinstanz tätigen Landesarbeitsgerichts Köln5. Bei der Beurteilung des Rechtsbegriffs der Angemessenheit hat es weder den Rechtsbegriff selbst verkannt noch bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und alle entscheidungserheblichen Umstände in sich widerspruchsfrei berücksichtigt. Die Angriffe der Revision führen zu keiner anderen Beurteilung. Die vorgebrachten Argumente der Arbeitgeberin hat das Bundesarbeitsgericht bereits weitgehend in einem früheren Verfahren geprüft6. Ergänzend ist vonseiten des Bundesarbeitsgerichts lediglich noch auf Folgendes hinzuweisen:

Soweit die Arbeitgeberin einwendet, es handle sich bei der Zeitungszustellung um eine leichte Tätigkeit, hat das Bundesarbeitsgericht hierzu in der vorgenannten Entscheidung bereits klargestellt, dass dies keine andere Beurteilung rechtfertigt, da der Zuschlag an das geschuldete Bruttoarbeitsentgelt anknüpft7. Im Übrigen geht es um den Ausgleich für die spezifische Belastung durch die Nachtarbeit8, nicht durch die Tätigkeit an sich. Ebenfalls auseinandergesetzt hat sich das Bundesarbeitsgericht mit dem Umstand, dass nur im „Randbereich“ der Nachtzeit bzw. nicht während des gesamten Nachtzeitraums Arbeitsleistungen erbracht wurden. Auch wurde der Einwand behandelt, der Wegfall des sog. Lenkungszwecks müsse zu einer Absenkung des Zuschlags führen9.

Entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin stellt der Umstand, dass der Zeitungszusteller wohnortnah arbeitet und deshalb einen kurzen Weg zur Arbeit hat, keinen Aspekt dar, der bei der Beurteilung der Angemessenheit des Nachtarbeitszuschlags positiv oder negativ zu berücksichtigen wäre. Die Wahl des Wohnorts und daraus folgend die Länge des Arbeitswegs zählt regelmäßig – so auch hier – nicht zur Arbeitsleistung, sondern ist Privatsache des Arbeitnehmers10.

Ebenfalls entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin ergeben sich zur Frage der Angemessenheit der Nachtarbeitszuschläge für Dauernachtarbeit auch keine Aspekte aus dem Unionsrecht, die eine Absenkung des Zuschlags begründen könnten. Soweit die Arbeitgeberin auf die Richtlinie 2003/88/EG verweist, strebt diese keine Vollharmonisierung an, sondern enthält Mindestvorgaben, die bei der Umsetzung der Richtlinie einzuhalten sind11. Dementsprechend definiert Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie, dass die Nachtzeit mindestens sieben Stunden zu betragen hat, welche auf jeden Fall die Spanne zwischen 24:00 Uhr und 05:00 Uhr umfasst. Dass der deutsche Gesetzgeber diese Spanne der Nachtzeit auf 23:00 Uhr bis 06:00 Uhr festgelegt hat, hält sich an diese Vorgaben. Maßgeblich ist diese Umsetzung in das deutsche Arbeitszeitrecht, wonach für die genannte Zeitspanne – und nicht lediglich für die in der Richtlinie aufgeführte – ein angemessener Ausgleich zu gewähren ist. Gleiches gilt, soweit die Arbeitgeberin einwendet, der Zeitungszusteller sei iSd. Richtlinie nicht als Nachtarbeiter zu qualifizieren, weil er nicht mindestens drei Stunden in der „europarechtlichen Kernnachtarbeitszeit“ tätig gewesen sei (Art. 2 Nr. 3, Nr. 4 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG). Auch insoweit kommt es auf das deutsche Arbeitszeitrecht an, das für einen über 05:00 Uhr morgens hinausgehenden Schutz sorgt. Eine Ausnahme von dem gesetzlichen Nachtzeitraum nach § 2 Abs. 3 Halbs. 1 ArbZG gibt es nur für Bäckereien und Konditoreien in § 2 Abs. 3 Halbs. 2 ArbZG12. Das hat zur Folge, dass für diese Tätigkeiten von 05:00 Uhr bis 06:00 Uhr morgens kein Ausgleich geschuldet ist. Eine entsprechende Regelung fehlt aber für die Zustellung von Zeitungen, obwohl auch diese in den späten Nacht- bzw. frühen Morgenstunden üblich war und ist. Daraus kann gefolgert werden, dass der Gesetzgeber diesen Aspekt gerade nicht zur Rechtfertigung einer diesbezüglichen, sich in einem geringeren Nachtarbeitszuschlag manifestierenden Sonderstellung der Zeitungszusteller genügen lässt13. Schließlich gilt, dass die Richtlinie 2003/88/EG nicht Fragen des Arbeitsentgelts für Arbeitnehmer regelt, da dieser Aspekt nach Art. 153 Abs. 5 AEUV außerhalb der Zuständigkeit der Union liegt14.

Soweit die Arbeitgeberin auch vorliegend geltend macht, die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG garantierte Pressefreiheit stehe einem höheren Nachtarbeitszuschlag entgegen, hat sich das Bundesarbeitsgericht damit bereits ausführlich auseinandergesetzt15. Insbesondere ist berücksichtigt worden, dass die Pressefreiheit für das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen von hoher und wertsetzender Bedeutung ist16.

Gleiches gilt für den Einwand, der Regelung in § 24 Abs. 2 MiLoG könne entnommen werden, dass eine Anhebung des Zuschlags für die in Dauernachtarbeit versehene Zeitungszustellung auf 30 % ausgeschlossen sei17.

Entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin kommt es schließlich bei der Bewertung der Angemessenheit von Nachtarbeitszuschlägen nicht auf die BV 12/2016 an. § 6 Abs. 5 ArbZG sieht einen Vorrang tariflicher Bestimmungen vor, enthält aber keine Öffnungsklausel für die Betriebsparteien. Eine betriebliche Regelung, die zum Nachteil der Arbeitnehmer hinter den gesetzlichen Vorgaben für einen angemessenen Ausgleich zurückbleibt, ist nach § 6 Abs. 5 ArbZG iVm. § 134 BGB unwirksam18.

Soweit die Arbeitgeberin auf ihr Wahlrecht verweist, entweder einen angemessenen Zuschlag oder eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage zu gewähren (§ 6 Abs. 5 ArbZG), hat sie hiervon für die Zukunft bereits Gebrauch gemacht hat. In Nr. 2 der einschlägigien Betriebsvereinbarung hat sie ihr Wahlrecht dahingehend ausgeübt, einen Nachtarbeitszuschlag als Ausgleich zahlen zu wollen19

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Dezember 2022 – 10 AZR 542/20

  1. vgl. hierzu BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 16[]
  2. st. Rspr., zuletzt zB BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 23 mwN[]
  3. BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 26 f., 29 mwN[]
  4. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 41 ff.; zustimmend Freyler Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 22; Kohte jurisPR-ArbR 42/2022 Anm. 3[]
  5. LAG Köln 05.06.2020 – 10 Sa 712/19[]
  6. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20[]
  7. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 35[]
  8. vgl. BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 37[]
  9. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 36, 38 f.[]
  10. vgl. BAG 13.10.2021 – 5 AZR 295/20, Rn. 45 f.[]
  11. vgl. den ersten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2003/88/EG[]
  12. vgl. dazu BT-Drs. 13/4245 S. 7[]
  13. vgl. Freyler Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 22 zu III 3[]
  14. vgl. EuGH 7.07.2022 – C-257/21 und – C-258/21 – [Coca-Cola European Partners Deutschland] Rn. 45 ff.[]
  15. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 42 ff.[]
  16. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 45[]
  17. BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 54 ff.[]
  18. vgl. BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 22[]
  19. vgl. zur Möglichkeit, aus kollektiv-rechtlichen Gründen zu einer bestimmten Art des Ausgleichs verpflichtet zu sein, BAG 9.12.2015 – 10 AZR 156/15, Rn. 67[]